Der unglückliche Wohltäter

Zu den zahlreichen Problemen, die sich zwischen Franz Kafka und Milena Jesenská ergaben, gehörte auch der sehr unterschiedliche Umgang mit Geld. »Einmal hat er einer Bettlerin zwei Kronen gegeben«, schrieb sie an Max Brod, »und wollte eine Krone heraushaben. Sie sagte, daß sie nichts habe. Wir sind gute zwei Minuten dagestanden und haben darüber nachgedacht, wie wir die Sache durchführen sollten. Da fällt ihm ein, er könne ihr beide Kronen lassen. Aber kaum hat er ein paar Schritte gemacht, wird er sehr verdrießlich.« Diesen Vorfall brachte sie auch gegenüber Kafka noch einmal zur Sprache, der sich jedoch erfindungsreich verteidigte:

 

Was die Bettlerin betrifft, so war dabei gewiss weder etwas Gutes noch etwas Schlechtes, ich war einfach zu sehr zerstreut oder zu sehr mit einem beschäftigt, als dass ich meine Handlungen anders hätte einrichten können, als nach vagen Erinnerungen. Und eine solche Erinnerung sagt z.B.: »Gib Bettlern nicht zuviel, später reut es Dich.« Ich hatte einmal als ganz kleiner Junge ein Sechserl bekommen und hatte grosse Lust es einer alten Bettlerin zu geben, die zwischen dem grossen und dem kleinen Ring sass. Nun schien mir aber die Summe ungeheuer, eine Summe die wahrscheinlich noch niemals einem Bettler gegeben worden ist, ich schämte mich deshalb vor der Bettlerin etwas so Ungeheuerliches zu tun. Geben aber musste ich es ihr doch, ich wechselte deshalb das Sechserl, gab der Bettlerin einen Kreuzer, umlief den ganzen Komplex des Rathauses und des Laubenganges am kleinen Ring, kam als ein ganz neuer Wohltäter links heraus, gab der Bettlerin wieder einen Kreuzer, fing wieder zu laufen an und machte das glücklich zehnmal. (Oder auch etwas weniger, denn, ich glaube die Bettlerin verlor dann später die Geduld und verschwand mir.) Jedenfalls war ich zum Schluss, auch moralisch, so erschöpft, dass ich gleich nach Hause lief und so lange weinte, bis mir die Mutter das Sechserl wieder ersetzte.

Du siehst, ich habe Unglück mit Bettlern, doch erkläre ich mich bereit mein ganzes gegenwärtiges und künftiges Vermögen in kleinsten Wiener Kassenscheinen dort bei der Oper langsam einer Bettlerin auszuzahlen unter der Voraussetzung dass Du dabei stehst und ich Deine Nähe fühlen darf.

 

Quellen: Brief Kafkas an Milena Jesenská, 18. Juli 1920, sowie Brief Milena Jesenskás an Max Brod, Anfang August 1920, in: Franz Kafka, Briefe 1918-1920, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main (S. Fischer) 2013, S. 236 und 580.